Joanna Lewicka hat Tschechows “Drei Schwestern” großartig inszeniert

(…) Ein Bild wie eine alte Fotografie. Ein Rastervorhang (…) Dahinter die Schemen von drei Frauen, weiß gekleidet. (…) Auf dem Vorhang eine Projektion: Dampf, Frauengesichter. Eine Stimmung in Sepia. Als wären wir in einem Film des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski, vielleicht „Der Spiegel“ (1975). Doch wir sind im Gostner Hoftheater. Auf der Bühne vergeht Zeit. (…) Ein Drama über das Altwerden auf dem Land. Im Mittelpunkt stehen Drei Schwestern in einer erbärmlichen Provinzstadt. (…) Männer sind nur Hirngespinste. (…) Lewicka hat ein Frauenprojekt inszeniert. (…) An Männer hängen die Drei Schwestern ihre Hoffnungen. Sinnlos. Alle werden enttäuscht. (…) Fröhlichkeit nirgends. Lewicka ist international unterwegs. Ihre Tschechow-Inszenierung im Gostner ist ein großes Stimmungs-Theater. Und eine Koproduktion mit der Stiftung für deutsch- polnische Zusammenarbeit. Auf der Bühne ist die Schwerkraft der Emotionen zu spüren, die man dem europäischen Osten nachsagt. Ab und zu retten sich die Frauen in Musik (…) Ein Quantum Trost für diese Menschen. Aber dazu werden Falten in den alten Gesichtern projiziert (Video: Aleksander Janas) Die drei Schauspielerinnen Philine Bührer, Johanna Steinhauser, Vanessa Czapla sind hochkonzentriert. Sie deuten nur an, wenn sie eine andere Rolle übernehmen. Das genügt. Sie bleiben doch diese verlorenen Mädchen in der russischen Provinz. Ein Radio haben sie, das meistens nur rauscht. Aber der Einmarsch von Putins Armee in die Ukraine wird gemeldet. Kurz tanzt aggressiv ein Bär. Der Krieg bleibt jedoch weit hinten. Es geht (…) in dieser Inszenierung um die Schützengräben, die sich durch die Frauenseelen ziehen. Was bleibt? Die Solidarität der Geschwister. (…) Ein ganz kleines Lächeln, ein Augenblitz der Utopie .Dann muss man sich den Frust wieder vom Körper waschen (…) Bühne von Marta Gozdz (…) Ein Raum mit Wänden aus zerfetzten Kleidern. Das Schlussbild erinnert wieder an einen Film, an „Schreie und Flüstern“ von Ingmar Bergman (…) Auch im Gostner Hoftheater schreit jetzt das Flüstern.Ganz leise,ganz schrecklich. Wenn das Publikum aus dem Albtraum dieser Szenen erwacht, hat es eine Ahnung davon, wie tapfer man sein muss, um zu leben.

Herbert Heinzelmann
nn.de