Das ist eine beeindruckende Inszenierung. […] Sie schafft Momente, die einem den Atem stocken lassen. […] Joanna Lewickas Arbeit bietet einige davon.
Teiresias hatte Kreon eindringlich davor gewarnt, Antigone zu bestrafen. Dafür, dass sie ihm widersprach, dass sie gegen die Staatsgewalt aufbegehrte und ihren Bruder Polyneikes bestattete. Kreon schickt sie dennoch in den Tod. Was folgt, ist eine Tragödie. Antigone – tot. Kreons Sohn Haimon, ihr Ehemann-to-be – tot. Eurydike, Kreons Frau – tot. „… Doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ Schulstoff, man kennt das. In Joanna Lewickas Inszenierung am Theater Plauen-Zwickau erlebt man es so intensiv, dass man danach besser weiß, was eine Tragödie ist. Vielleicht gerade, weil die Inszenierung auf die sich anbietenden Jetzt-Bezüge zum Thema Widerstand verzichtet und nah am Text und bei den Figuren bleibt. Sie schafft Momente, die einem den Atem stocken lassen. Einer davon ist Teiresias’ Auftritt nach Antigones Tod. An einem Seil gen Bühnenhimmel gezogen, breitet er seine schwarzen Flügel aus und singt. Claudia Lüftenegger spielt diesen Teiresias, und dies ist ihr großer, bewegender Auftritt. Schwebend, klagend, mahnend singt sie „Here’s to you“ von Joan Baez. Eine der großen Protesthymnen, ursprünglich in Gedenken an die Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, geschrieben von Ennio Morricone. Für Gänsehaut-Momente wie diesen geht man ins Theater. Joanna Lewickas Arbeit bietet einige davon.
In Zwickau ist zu erleben (Premiere in Plauen am 10. März), wie sehr sich dieser fokussierte, konzentrierte Ansatz lohnt. Gespielt wird die neu übersetzte und bearbeitete Fassung von Heinz Oliver Karbus, der man inhaltlich sehr gut folgen kann, deren Sprache klarer und – bitte um Nachsicht – weniger schwülstig ist als die Hölderlins. Es gibt keine Fremdtexte, keine Aktualisierungen, keine Ablenkungen. Stattdessen die geballte Wirkkraft der antiken Allegorie.
Antigone ringt schwer mit sich, bevor sie sich radikal widersetzt. Widerstand will gut überlegt sein, und es liegt auf der Hand, dass das mit uns im Hier und Jetzt zu tun hat. Das konsequent eben nicht mit Aktualitäten zu bebildern, hier geht es auf. Wie einfach wäre es gewesen, auf der Bühne dieselben Plakate zu zeigen wie auf dem Markplatz. Stattdessen lauscht man den kraftvollen, klugen Sophokles-Sätzen und kann, da Lewicka sich nicht durchgängig auf Antigones Seite schlägt, zumindest dies verstehen: Es endet selten gut, wenn keine Seite nachgibt, wenn jeder kompromisslos auf seiner Haltung besteht. Und noch etwas liegt in der Luft in dieser düsteren, formstrengen Inszenierung: Krieg. Zwei Brüder haben sich gegenseitig erschlagen, der Tod des einen gilt als ehrenvoll, der des anderen als Schande. Vor den Toren der Stadt verrotten soll er, und außer Antigone wagt es niemand, auf die Werte der alten Götter zu verweisen, die im Grunde die menschlichen Werte sind. Hier sind es vor allem die Bilder, die Joanna Lewicka sprechen lässt.
Die Bühnenausstattung von Aleksander Janas ist spartanisch (falls man das sagen kann, das Stück spielt ja in Theben), funktional, sehr klar strukturiert. Die sehr tiefe Hinterbühne wird einbezogen, beleuchtete Podeste, auf und zwischen denen vor allem der Chor spricht, stehen auf der sich drehenden Bühnen-Scheibe. Die Welt in ihrem Elend fährt Karussell, und Sophokles macht die Ansagen. Auf Videoleinwänden werden stilistisch sehr wertig gedrehte, sehr ästhetische Schwarz-Weiß-Filme abgespielt. Bilder in slow-motion und Zeitraffern, die selbst kleine Kunstwerke sind – man sieht beispielsweise Antigones toten Bruder Polyneikes nackt in der Wüste liegen, wo er verrotten soll, Sand weht über seinen Körper …
Joanna Lewickas Zugriff auf den Stoff ist nicht hip oder wild, das ist hochklassige klassische Schauspielkunst in einem sehr modernen Look. Und sie lässt ihre Bilder wirken: Kreons Frau Eurydike, die nach dem Selbstmord ihres Sohnes eine gebrochene Frau ist, wird in einem kleinen Handwagen über die Bühne gezogen. Noch so ein starker Moment. Ihr Musikkonzept verstärkt diese Stimmungen. Ebenso die Kostüme von Vanessa Vadineanu: Sie deuten die Machtverhältnisse an, sind aber auch nicht historisierend, sondern trotz ihrer gekonnten Kombination von alt und neu eher abstrakt.
Eine beeindruckende Inszenierung. Mit großartigen Schauspielerinnen und Schauspielern, die es schaffen, die große Tragik mit sehr viel Pathos zu spielen, ohne dass es unfreiwillig komisch wirkt. Man glaubt ihnen ihre Rollen, das gelingt wahrlich nicht immer.